Fast hätte er seinen Nobelpreis verpasst. Als die
Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaften am 11. Oktober 1994 die Namen
der Wirtschafts-Nobelpreisträger bekannt gab, war Reinhard Selten beim
Einkaufen. Da die Ära der Mobilfunkkommunikation noch nicht angebrochen war, kam der
Professor der Bonner Universität ahnungslos nach Hause. Ein Pulk von
Journalisten belagerte sein Haus in Königswinter-Ittenbach. „Ich gratuliere
Ihnen“, sagte ein Reporter, worauf Selten ratlos antwortete „Wozu ?“ Danach
kümmerte sich Selten zuerst darum, seine Einkäufe sicher ins Haus zu bringen.
Erst als die Journalisten ihm in sein Haus folgten und sich nicht abschütteln
ließen, realisierte Selten, was in diesem Moment geschehen war.
Reinhard Selten, 84 Jahre alt, ist bislang der
einzige Deutsche, der sich mit der Auszeichnung eines Nobelpreises für
Wirtschaft schmücken kann. Nachdem er an den Universitäten in Berlin und
Bielefeld gelehrt hatte, führten ihn 1984 seine Wege an die Universität Bonn.
Den Nobelpreis erhielt er auf seinem Spezialgebiet, der Spieltheorie. Um spieltheoretische
Situationen in volkswirtschaftlichem Sinne handelt es sich genau dann, wenn mehrere
in Konkurrenz stehende Entscheidungsträger an übergeordneten Entscheidungsprozessen
beteiligt sind. Dabei ähneln die Mechanismen denjenigen von
Gesellschaftsspielen, wenn in die eigenen Handlungsweisen die Überlegungen und
die Strategien der Mitspieler einzubeziehen sind. Es kommt zu Interaktionen
zwischen den Spielern, wobei jeder Spieler seine eigenen
Entscheidungspräferenzen hat und sein eigenes Spielergebnis zu maximieren
sucht.
Selten hat den Menschen als „homo oeconomicus“ durch
leuchtet, wie er mit seinen eigenen Nutzenpräferenzen als rationaler Entscheider
wirklich tickt. Wichtig ist das volkswirtschaftliche Gesamtergebnis, und zwar
als Konglomerat eines Gesamtnutzens, wenn man die Nutzen der einzelnen
Beteiligten aufsummiert.
Dieser Gesamtnutzen kann auch suboptimal sein, das
zeigt das Beispiel des Gefangenen-Dilemmas. Angenommen sei die Situation, dass
zwei Komplizen eine Bank überfallen haben. Nach ihrer Flucht werden sie in demselben
Fluchtfahrzeug ohne das erbeutete Geld von der Polizei geschnappt. In separaten
Verhören haben die beiden Bankräuber die Alternative, entweder die Tat
zuzugeben oder diese zu leugnen. Geben sie die Tat zu, müssen sie mit einer
Gefängnisstrafe von 3 Monaten rechnen. Leugnen sie die Tat, dann müssen sie
wegen Kleinkriminalität aus den vergangenen Monaten eine Geldstrafe von 500
Euro zahlen. Gibt aber ein Bankräuber den Raub zu und der andere leugnet
diesen, dann verlängert sich die Gefängnisstrafe ohne Geständnis für den
zweiten Bankräuber auf 6 Monate. Diese Konstellation ergibt den schlechtest
möglichen Gesamtnutzen, nämlich 9 Monate Gefängnis, obschon der eine Bankräuber
sich nach besten Kräften bemüht hat, seinen eigenen Nutzen zu optimieren.
Spieltheoretische Ansätze lassen sich auf
Verhandlungssituationen übertragen. So taktiert Griechenland in der Euro-Krise,
indem es versucht, ein Optimum für das eigene Land bei maximalen Schulden
herauszuholen, während es mit unabsehbaren Folgen für die gesamte
Weltwirtschaft herum spielt. Ein Herr Weselsky schafft es, ein Maximum für die
kleine Klientschaft der Lokführer heraus zu holen, während der Schaden durch
stillstehende Güter- und Personenzüge für die Volkswirtschaft immens ist. In
der Energiewende läuft so manches durcheinander, weil die Entscheidungsbedarfe
über die gesamte Energiepolitik hinweg hoch sind. Gaskraftwerke, die gebaut worden
sind, werden nicht genutzt. Bei Rekordminustemperaturen im Winter 2012/2013
stand das Stromnetz vor dem
Zusammenbruch, weil zu viele Kraftwerke abgeschaltet worden waren. An einer
anderen Front kämpft Bayern dafür, dass alle neuen Hochspannungstrassen, die
Windenergie von Nord nach Süd befördern sollen, über Baden-Württemberg an Bayern
vorbei laufen sollen.
Solche Schieflagen eines Gefangenen-Dilemmas sollten
vermieden werden. In der Ökonomie nennt man das Optimum, wenn sich aus der
Summe der Einzelnutzen ein optimaler Gesamtnutzen gibt, ein sogenanntes
Nash-Gleichgewicht.
Seltens Ansätze, ein Gefangenen-Dilemma in ein
Nash-Gleichgewicht zu überführen, mögen trivial klingen: der Mensch ist nicht
nur ein Konstrukt aus mathematischen und ökonomische Modellen, sondern er zeigt
auch Gefühle, Einsichten, Erfahrungen, Vernunft, Urteilsvermögen, individuelle Verhaltensweisen
beziehungsweise alles, was die Persönlichkeit des Mensch prägt. Selten hätte
auch Immanuel Kant aus seiner Kritik der praktischen Vernunft zitieren können: „
… die Idee des Ganzen richtig zu fassen, und aus derselben alle jene Teile in
ihrer wechselseitigen Beziehung auf einander, vermittelst der Ableitung
derselben von dem Begriffe jenes Ganzen, in einem reinen Vernunftvermögen ins
Auge zu fassen.“ In Seltens Theorien optimieren sich die Nutzen der einzelnen
Individuen über Bestandteile von Vernunft, so dass automatisch die optimierten
Nash-Gleichgewichte entstehen.
So banal und alltäglich diese Gedanken klingen: der
Nobelpreis wurde vergeben, weil Selten ein eigenes Laboratorium für
volkswirtschaftliche Experimente an der Universität Bonn aufgebaut hat, das
Bonn-Econ-Lab. In dem Laboratorium geht es hoch mathematisch her:
spieltheoretische Entscheidungssituationen werden simuliert, die Beteiligten werden
festgelegt, der Mensch als rationaler Entscheider wird in Frage gestellt, indem Stufen der
Rationalität eingeführt werden. Verhaltensweisen wie Fairness, Uneigennützigkeit,
Hedonismus, Statusüberlegungen, Neid und vieles mehr können modelliert werden.
Zum Beispiel wurde das Problem einer Währungsunion
experimentell dargestellt. Selten simulierte eine Währungsunion in einem
Zwei-Länder-Modell, indem er die Situation mit und ohne Währungsunion
darstellte. Ausgewählte Teilnehmer schlüpften in die Rolle der Regierungen und
der Zentralbanken, andere spielten Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und
Unternehmen. Entscheidend war die Rolle der Zentralbanken, auf stabile
Wechselkurse zu achten. Wenn dies der Fall war, ließen sich keine Unterschiede
zwischen den Situationen mit und ohne Währungsunion nachweisen. Wenngleich
umstritten ist, die verhaltensökonomischen Ansätze auf die komplexen Gebilde
von Volkswirtschaften zu übertragen, haben sich solche Experimentallabore durchgesetzt.
So gibt es in Europa 61 solcher Laboratorien, in Amerika sind es 69.
Reinhard Selten gibt sich bodenständig und
bescheiden. Im Siebengebirge ist er gerne mit bequemem Schuhwerk und mit
Wanderstöcken unterwegs. Seine Nobelpreismedaille steht in seinem Büro hinter
ein paar Aktenordnern, ohne dass er diese an einem feierlichen Platz aufgehängt
hat. Man kennt ihn in Königswinter-Ittenbach. Ob mit oder ohne Nobelpreis, das
ist ihm egal.
Lieber Dieter,
AntwortenLöschendanke für diesen stimmmungsvollen Bericht. Du hast sehr gut
recherchiert und uns Reinhard Selten nähergebracht. Ich muss
gestehen, dass man sich nicht sehr oft an ihn erinnert.
Einen angenehmen Abend wünscht dir
Irmi
Lieber Dieter, du hast mich heute in eine Welt geführt, in der ich mich nicht so zuhause fühle! Doch ich gestehe, ich habe deinen Post mit sehr großem Interesse gelesen - vieles war Neuland. Heute habe ich es betreten! Danke dafür! LG Martina
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